4. Adventwoche
4. Adventwoche

5. Dezember

Der Stall

Frau mit Esel

Der Stier vom Bauern Ismael aus Bethlehem war der größte, dickste und wildeste Stier in ganz Israel. Vor Jahren, als das Tier lediglich groß, dick und wild gewesen war, hatte sein Besitzer ihm einen Ring mit einer Seilschlinge durch die Nase gebohrt. Ein Erlebnis, das der Stier bis heute den Menschen nicht verziehen hatte.
Jeden Tag musste einer der vier Knechte des Bauern Ismaels das Ende der Schlinge packen, den Stier in den verfallenen Stall führen und an der Wand nahe der Futterkrippe festbinden.
Es war jeden Abend ein Schauspiel für ganz Bethlehem, wenn der arme Knecht, auf den das Los gefallen war, zittrig über den Weidezaun stieg und sich von hinten auf Zehenspitzen an den Stier heranschlich. Beim ersten Versuch gelang es meistens nicht. Denn in dem Moment, wo der Knecht blitzschnell das Ende der Schlinge ergreifen wollte, drehte sich der Kopf des Stieres. Er schaute den Knecht mit vorwurfsvollen großen Augen an, während die riesigen Zähne unablässig das spärliche Gras, das zwischen den Dornensträuchern wuchs, zermalmten.
„Wie konntest du dich nur von hinten an mich heranschleichen?“, sagten diese Augen und funkelten gleich nachher ein wenig auf. Jeder Knecht wusste, was dieses Funkeln zu bedeuten hatte, und wartete erst gar nicht auf das Scharren der Hufe im Sand und das Schnauben, bei dem die gewaltigen Nasenlöcher auf und zu klappten, sondern rannte bereits beim ersten Funkeln los, inbrünstig hoffend, den rettenden Weidezaun rechtzeitig zu erreichen. Wehe dem Knecht, der über einen Stein stolperte oder in der Dämmerung einen Dornbusch übersah. Schon war der Stier über ihm, und er wurde wie ein Sack Mehl durch die Luft gewirbelt, um außerhalb des Zaunes mit der Nase im Staub der Straße zu landen. Das Mitgefühl der anderen Knechte verschärfte nur noch mehr den Spott und Hohn der Bauern und Bürger Bethlehems, allen voran des Bauern Ismael selbst, der ebenso groß, dick und wild war wie sein Stier.
Er hatte niemals Mitleid mit seinen armen Knechten, sondern schickte unwiderruflich denselben armen Teufel, der gerade erst Sand und Steinchen aus seinem Mund gespuckt hatte, wieder über den Zaun. Meistens war der Stier beim zweiten Mal weniger aufmerksam, oder die Gier nach der Futterkrippe war größer als das Verlangen, seine Kraft zu zeigen.
Beim zweiten Mal konnte der Knecht in der Regel das ausgefranste Ende der Schlinge fassen und im Laufschritt den Stier von der Weide in den Stall führen und festbinden.
Doch eines Abends im Winter gelang es den Knechten nicht. Mal um Mal packte der Stier den Knecht und warf ihn über den Zaun. Beim dritten Mal brach sich der Knecht einen Arm, und der Bauer schickte den zweiten Knecht. Diesen ereilte das gleiche Schicksal, ebenso erging es dem dritten und dem vierten Knecht. Es blieb dem Bauern also nichts anderes übrig, als selbst über den Zaun zu steigen und den Stier in den Stall zu führen.
Wie ein Lauffeuer verbreitete sich diese Nachricht. Groß und klein drängten sich um den Zaun. Der Stier stand wie in einer Arena mitten im Feld. Der Bauer hob sich behäbig über den Zaun. Der Stier stand unbeweglich. Nur das Funkeln in seinen Augen verriet seine innere Erregung. Ismael streckte die Hand aus und griff nach dem Seil. In diesem Moment schnaubte der Stier. Es klang wie ein Donnern aus der Ferne. Ehe der Bauer es bemerkte, lag er bereits mit schmerzenden Knochen im Straßenstaub, und ganz Bethlehem lachte. Ismael fluchte und drohte dem Stier mit der geballten Faust.
„Draußen sollst du bleiben. Frieren und hungern sollst du!“ schrie er und verschwand in seinem Haus.
Die Leute von Bethlehem zerstreuten sich.
„Ich hätte den Stier gewiss bändigen können“, betonte ein jeder, „aber Bauer Ismael hat mich ja nicht gefragt.“
„Er ist genauso überheblich, wild und arrogant wie sein Stier“, sagten sie und nickten weise mit den Köpfen.
„Gott sei Dank sind wir nicht selbst so, sondern hilfsbereit und freundlich“, fügten sie hinzu und schlugen die Türen fest hinter sich zu, damit die kalte Abendluft nicht in die warme Stube drang.
Aber statt nach dem aufregenden Schauspiel ein wenig Ruhe genießen zu können und mit den Frauen über Bauer Ismael zu schwatzen, klopfte es an den Türen. Draußen stand ein Mann mit seinem Eselchen, und auf dem Eselchen saß eine hochschwangere Frau, die vor Kälte zitterte.
„Ach bitte,“ flehte der Mann, „haben Sie wohl ein warmes Plätzchen für mich und meine Frau?“
Die Männer Bethlehems schauten auf den Mann und dachten daran, dass sie, wenn sie ihn und seine Frau aufnahmen, sie diese doch sicher auch bewirten müssten. Vorbei wäre es mit der Gemütlichkeit und dem Schwätzchen mit der Frau am Abend vor dem Feuer.
Die Frauen Bethlehems schauten mit kundigem Blick auf den Bauch der Frau, der sich groß und rund unter dem dünnen Mantel wölbte, schürzten die Lippen, stießen ihre Männer in die Seite und zischten zwischen den Zähnen: „Es kommt heute Nacht noch.“
Die Männer Bethlehems schüttelten die Köpfe.
„Ich bedaure, wir haben keinen Platz, alles voll!“ sagten sie und schlugen die Türen zu.
So gingen der Mann, die Frau und das Eselchen von Tür zu Tür, und überall das gleiche: In ganz Bethlehem war kein Platz für sie.
Zuletzt kamen sie zum Bauern Ismael, der am Rande der Stadt wohnte. Der Mann klopfte an die Tür. Mühsam stand der Bauer Ismael von seinem Sessel vor dem Feuer auf und öffnete die Tür. Er hörte die Bitte des Mannes, bekam einen schmerzhaften Rippenstoß von seiner Frau, die ihn zwischen den Zähnen zischend auf den Umstand der nahen Geburt aufmerksam machte, und sagte: „Bedaure, kein Platz, alles voll!“, und wollte schon die Tür zu machen. In dem Augenblick stellte der Mann seinen Fuß auf die Schwelle, und die Frau auf dem Eselchen zog ihr Gesicht vor Schmerzen zusammen.
„Neben dem Haus, draußen auf dem Feld steht ein Stall. Dort könnten wir nächtigen“, begehrte der Mann auf, der spürte, wie sehr die Frau auf dem Eselchen eine Unterkunft brauchte.
„Der Stall auf dem Feld“, wiederholte Ismael. Auf einmal kam ihm eine Idee. Er räusperte sich.
„Der Stall ist leer. Nur mein Ochse ist draußen auf dem Feld“, sagte er und faltete seine Hände bequem über seinem dicken Bauch. „Wenn du den Ochsen in den Stall führst, darfst du mit deiner Frau und dem Esel von mir aus auch noch hinein. Aber merke dir wohl, keinen Lärm, kein Feuer, und in der Früh seid ihr verschwunden.“ Ismael verbiss sich das Lachen.
Wenig später führte der Mann seine Frau auf dem Eselchen zum Feld.
„Eine ruhige Nacht noch!“ brüllte Ismael ihnen nach.
„Morgen wird keiner in Bethlehem mehr über mich spotten, sondern alle werden über den fremden Narren reden, der nachts mit seiner schwangeren Frau ausgerechnet heimlich in Bauer Ismaels Stall schlafen wollte und dabei von einem Stier zertrampelt wurde“, sagte er selbstzufrieden zu seiner Frau.
Der Mann war mit seinem Eselchen beim Weidezaun angekommen. Er öffnete das Gatter. Das Eselchen mit der Frau auf dem Rücken spazierte hinein. Der Mann schloss das Gatter wieder.
„Dort steht der Ochse.“
Die Frau zeigte auf einen großen, sehr großen dunklen Schatten. Der Mann ging hin, und das Eselchen folgte ihm. Er griff nach der Schlinge, die unter dem Kopf des großen Tieres baumelte, und in dem Moment funkelten die Augen des Tieres wie zwei kleine Feuer auf.
„Schau mal“, sagte die Frau entzückt. Sie beugte sich mühsam vor und streichelte den gewaltigen Nacken. Der Mann, der die Erregung des Tieres spürte, wollte schon weglaufen, um seine Haut zu retten, aber er konnte nicht. Er musste seine Frau und das Kind, das sie in sich trug, schützen.
„Maria, reite schnell auf dem Eselchen weg“ flüsterte er.
„Josef, seine Augen leuchten wie Flammen, und sein gewaltiger Körper wird uns wärmen wie ein Feuer. Sicher hat Gott ihn deshalb so groß und gewaltig gemacht, weil wir ihn heute Nacht brauchen“, sagte Maria.
Josef begriff, dass sie ihn nicht gehört hatte, und mit dem Mut der Verzweiflung packte er das Seil und brummte: „Komm schon, du hörst doch, sie braucht dich jetzt, genauso wie sie mich braucht. Zier dich nicht. Ich habe mich ja auch nicht geziert.“ Er zog an dem Seil, und der Stier folgte ihm gehorsam in den Stall.
Die sonderbaren, wunderbaren Ereignisse im Stall, wovon der Stier des Bauern Ismael als Ochse Zeuge wurde, sind uns allen bis heute unvergessen in Erinnerung. Es ist dann auch kein Wunder, dass die Leute von Bethlehem am nächsten Tag über das Kind, den Stern, die Hirten, die Engel und die Weisen aus dem Morgenland sprachen und keiner auch nur an den Stier des Bauern Ismael dachte. Dieser war für immer aus dem Gedächtnis der Menschen verschwunden. Alle sahen nur einen großen, friedfertigen Ochsen, der so fürsorglich das kleine Kind in der Krippe wärmte. Einzig der Bauer Ismael erkannte in dem Tier seinen Stier. Aber er wusste wohl selbst am besten, weshalb er darüber schwieg.

Rachel van Kooij

Der Stall

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