4. Adventwoche
4. Adventwoche

24. Dezember

Das hundertste Schaf

Landschaft mit einer Schafherde und einem Stern am Himmel

Die Schafe drängten sich im Stall zusammen. Es war viel zu eng. Sie traten sich gegenseitig auf die Füße, schubsten sich ungeduldig, und hie und da zwickten sie sich gegenseitig mit den Zähnen verärgert in die weichen, rosigen Ohren.
Es war unerhört! Normalerweise verbrachte die Herde die Nächte auf den Feldern zusammen mit den Hirten. Die Schafe konnten es sich gemütlich im weichen Gras machen, das Feuer wärmte sie, und es war schön, den Hirtenflöten zu lauschen, verträumt in das unendliche Weltall zu blicken und schläfrig die Sterne zu zählen, bis ihnen die Lider über die Augen fielen.
Nur heute Nacht war alles auf einmal anders gewesen. Sie hatten bereits friedlich geschlafen, als die Ruhe der Nacht plötzlich durch einen fürchterlichen Krach gestört wurde. Erschrocken hatten die Schafe die Augen aufgerissen. Der Himmel über ihnen zerbrach in grellen Lichteffekten. Die Hirten fielen reihum zwischen ihnen auf die Knie, falteten die Hände und starrten hinauf. Sie schienen auf etwas zu hören, als könne dieser Krach und das zuckende Licht ihnen irgendeine Botschaft erzählen. Die Schafe spitzten die Ohren und gafften in den Himmel wie die Hirten, aber sie sahen nur ein grell blitzendes Licht und hörten nur ein Donnern, in das sich alles Mögliche an befremdlichen Geräuschen mischte.
Sebastian, der älteste Bock, hatte versucht, Ordnung in das Durcheinander zu bringen. „Ich werde mich darum kümmern, keine Panik“, hatte er nach links und rechts geblökt. „Wahrscheinlich lässt sich alles ganz natürlich erklären.“ – „Und wie?“ blökte Lena, seine erste, älteste und rechthaberischte Gattin, und lächelte süffisant. „Ein Vulkanausbruch in Asien, verirrte Polarlichter, ein Meteorschauer auf der südlichen Halbkugel. Sicher nichts, worüber du oder ein anderes Schaf sich wundern würde, wenn man Bescheid wüsste“, brummte Sebastian.
Er schob seinen massigen Körper durch das Gedränge, bis er den Oberhirten erreicht hatte. Der lag so wie die anderen Hirten auf den Knien und starrte mit entrücktem Gesicht in den Himmel. Sebastian stieß ihn sanft an. „Es verwirrt die Herde ein wenig, wenn keiner von euch sich um uns kümmert“, blökte er diplomatisch. „Noch habe ich die Lage unter Kontrolle, aber meine Schafe verfügen nicht über sehr viel Hirn, und ich weiß nicht, wie lange sie noch ohne einen beruhigenden Zuspruch eurerseits durchhalten werden.“ Der Oberhirte schien ihn gar nicht zu hören. „Ich will nicht lästig sein, und ich habe der Herde auch schon erklärt, dass dieser Krach und das Licht völlig natürlich sind. Eine Folge des Klimawandels, oder?“ Sebastian gab dem Oberhirten Zeit, darauf zu antworten, aber dieser brach plötzlich in Hallelujarufe aus. Die anderen Hirten stimmten ein. Sie waren so laut, dass sie beinahe das himmlische Getöse übertönten. Sebastian sah sich genötigt, dem Oberhirten einen festeren Stoß zu geben. „Wenn ich bitten darf“, blökte er mit einer gewissen Empörung. „Es geht die Herde nichts an, warum ihr so begeistert von dem Krach und dem Licht seid, aber wenn ihr und die Unterhirten dabei auf eure Aufgaben vergesst, so kann ich das als Oberschaf nicht gut heißen. Ich bin nicht mehr in einem so jugendlichen Alter, dass ich eine Schafpanik allein regeln kann.“
Der Oberhirte sprang auf. Na endlich, wurde auch Zeit, dachte Sebastian. Die anderen Hirten sprangen ebenfalls auf. Sie liefen kreuz und quer zwischen den Schafen herum, rafften ihre Mäntel, Stöcke und Bündel zusammen. Sie wirkten aufgeregt und planlos. In diesem Zustand waren sie keine große Hilfe für die Herde. „Wir gehen. Wir gehen! – Aufstellen zum Gehen“, blökte Sebastian deshalb so laut er konnte. „Hinter den Hirten anschließen! Keine Lücken lassen!“ Er ärgerte sich, dass der Oberhirte seine Unterhirten so gar nicht zur Ordnung rief. Im Gegenteil, er lief schon los, ohne auch nur einen Blick zurück auf seine Herde zu werfen. „He, was soll das? Wer kümmert sich um uns?“ blökte Lena neben ihm „Er und ich sind ein eigespieltes Team. Er weiß selbstverständlich, dass wir ihm folgen werden. Er kennt uns. Er vertraut uns“, gab Sebastian zurück, mit einer gehörigen Portion mehr Überzeugung, als er selbst spürte.
Die Schafe eilten hinter den Hirten her, über die Wiese, ein Stück am Bach entlang, durch den Olivenhain zum Stall, den sie eigentlich nur bei Regenwetter benutzten. Der Oberhirte riss die Tür auf, deutete gehetzt mit seinem Stock in den Stall hinein und rief: „Nummer 27, 34 und 6 nehmen wir mit.“ Drei Hirten holten geschickt die drei Jungschafe aus der Herde heraus und scheuchten die anderen hinein.
Und nun standen sie seit zwanzig Minuten eng gedrängt im Stall. Ohne Futter, ohne Wasser und kein Hirte weit und breit. Die besten Zutaten für eine handfeste Schafrevolte, dachte Sebastian trübe und musste an die Geschichten denken, die über zu Tode getrampelte Oberschafe kursierten, die nicht länger im Stande gewesen waren, ihre Herde zu lenken.
Lena tauchte neben ihm auf. Sie schubste einfach die jüngeren Schafe zur Seite. Sie keuchte ein wenig, und dann blökte sie besorgt. „Luis fehlt. Ich kann ihn nirgendwo sehen.“ – „Ách, der ist bestimmt irgendwo. Hier drinnen im Gedränge kann niemand jemanden sehen. Und du weißt, wie er ist. Ungehorsam und abenteuerlustig.“ – „Er ist nicht da!“, beharrte Lena. „Okay!“, seufzte Sebastian. Diese überbesorgten Mütter! Die verstanden nicht, dass so ein kleiner Schafbock auf Dauer nicht an der Mutterwolle hängen wollte. Sebastian legte den Kopf in den Nacken und brüllte: „Luis! Luis wird von seiner Mama vermisst.“ Andere Schafe stimmten in das Rufen ein. „Luis! Luis wird von seiner Mama vermisst!“ Dann schwiegen alle und lauschten. Aber es blieb still. Luis war nicht im Stall. „Siehst du. Habe ich doch gesagt. Er ist verschwunden.“ Lena war jetzt den Tränen nahe. „Ach, die Hirten werden ihn mitgenommen haben“, sagte Sebastian. „Welche Nummer hat er auch wieder?“ – „100“, schluchzte Lena. „Wie kannst du das vergessen. Und sie haben ihn nicht mitgenommen, sondern Cindy, Linda und Minerva. Sie wählen immer die mit den schlanksten Beinen und der weichsten, lockigsten, weißesten Wolle aus, wenn sie uns herzeigen wollen.“ „Diese drei“, murmelte Sebastian versonnen „sind wirklich eine Augenweide für unsere Herde.“ Lena versetzte ihm einen schmerzhaften Tritt. „Ihr Männer denkt doch immer nur an das Eine, dabei ist unser kleiner Luis weg. Wer weiß, was ihm bei diesem Gehetze zum Stall zugestoßen ist. Jetzt ist er da draußen, ganz allein. Und du denkst bloß an diese drei Flitt …“ – „Ja, ja! Sobald die Hirten zurück sind, werden sie uns zählen und ihn dann suchen gehen.“ – „Und wann ist das? Die sind ja alle wie kopflose Schafe davongerannt.“
Noch bevor Sebastian antworten konnte, dass er das auch nicht sagen könne, wurde die Stalltür aufgerissen. Mit halboffenem Mantel und ohne Hut stand der Oberhirte auf der Schwelle. „Schon ist er da“, verkündete Sebastian. Aber der Hirte beachtete die Herde nicht. Er öffnete hastig die Truhe neben der Tür und kramte darin herum. Sebastian, der als Oberschaf neben der Tür seinen Platz beansprucht hatte, hörte ihn murmeln. „Wir können doch nicht ohne etwas kommen? Aber was? Wir haben doch nichts. Vielleicht das Töpfchen Honig oder diese Decke? Nein, die hat Mottenlöcher. Besser doch den Honig.“ – „Entschuldige“, blökte Sebastian. „Die Herde vermisst ein Schaf. Das hundertste, um genau zu sein. Luis, der Name, ein kleiner Draufgänger. Ich glaube, ihr solltet ihn auf der Stelle suchen. Das ist so einer, der immer in Schwierigkeiten gerät.“ – „Da hätte ich noch einen Gürtel. Aber das passt wohl nicht. Ich nehme den Honig, Kinder mögen Süßes.“ Sebastian begriff, dass der Oberhirte ihm wieder nicht zuhörte und er selbst das Kommando übernehmen musste.
„Herde“, blökte er „Schildkrötenaufstellung. Die Kleinen vorne dieses Mal.“ Er dankte im Stillen der Vorsehung, die es so gewollt hatte, dass er seine ersten Lebensjahre als Schafmaskottchen in einem römischen Heerlager verbracht hatte. Stundenlang hatte er bei den Übungen zuschauen müssen. Die Schildkröte war eine quadratische Aufstellung von 10 mal 10 Mann. Die Schönheit dieser präzisen Formation hatte ihn schon als kleiner Bock begeistert. Als er Jahre später Oberschaf dieser Herde geworden war, hatte er über Wochen die Schafe gedrillt, bis sie die Schildkröte beherrschten. Seitdem war das Zählen der Schafe ein Kinderspiel.
Die Herde gehorchte. Und während Sebastian die Tür blockierte, formierten sich die Schafe zur Schildkröte. Es funktionierte. Genau mitten vorne blieb ein Platz frei. Das musste sogar dem Dümmsten auffallen. Trotzdem gab Sebastian dem Oberhirten zur Sicherheit einen Stoß.
Der Oberhirte sah das Loch, dachte kurz nach. Ließ seinen Blick über die Schafe gleiten und wusste, wer fehlte. Ausgerechnet das hundertste Schaf, ein kleiner Bock, der schon öfter ausgerissen war. Auch das noch. Er wurde hin und her gerissen zwischen seiner Pflicht, das verlorene Schaf suchen zu gehen (Er hatte noch nie ein Schaf verloren, und darauf war er stolz) und dem brennenden Wunsch, schnell den anderen Hirten nachzueilen. Die Idee, dass sie ohne Geschenk an dieser Krippe mit dem göttlichen Kind stehen würden … Wer weiß, wer noch aller die Botschaft erhalten hatte? Und dann würden sie als einzige Berufsgruppe ohne Geschenk dastehen! „Luis fehlt“, blökte Lena. „Ja, Luis fehlt. Er ist natürlich selber Schuld. Ich verstehe, wenn ihr ihn jetzt nicht suchen wollt. Aber dennoch, ihr habt noch nie ein Schaf verloren“, blökte Sebastian. „Luis fehlt. Luis fehlt“, fielen die anderen Schafe ein.
Na gut, dachte der Oberhirte. Er kann nicht weit gekommen sein. Ich werde ihn zuerst suchen. Er steckte das Honigtöpfchen in die Manteltasche, schnappte seine Laterne und machte sich auf den Weg. „Er ist ein guter Hirte“, sagte Sebastian zu Lena. „Wir sind immerhin hundert Schafe. Andere würden denken: Was macht das schon aus, wenn eines fehlt. Aber nicht unser Hirte. Er geht es suchen und wird es wohlbehalten zur Herde zurückbringen.“
So kam es, dass in jener Nacht, als in einem anderen Stall, wo ein kleines Kind in einer Krippe lag, schon wieder Ruhe eingekehrt war, die Tür nochmals aufging. Ein verschmutzter, müder alter Hirte, gebeugt unter der Last eines kleinen Schafes, das er sich über die Schulter gelegt hatte, trat ein. Er fiel auf die Knie und zog aus seiner Manteltasche die klebrigen Scherben eines zerbrochen Honigtöpfchens heraus. „O nein, auch das noch“, murmelte der alte Hirte. „Das wäre unser Hirtengeschenk gewesen. Und jetzt haben wir nichts.“ Das kleine Schaf spürte die Wärme des Stalles. Es regte sich, blökte leise und auch ein wenig neugierig. Der Hirte ließ es von den Schultern gleiten. Das Schäfchen tapste auf die Krippe zu, schnüffelte am Stroh und leckte mit der Zunge über das Händchen, das sich ihm entgegenstreckte. Und dann hüpfte es in die Krippe hinein und bettete sich müde neben das Kind.
„Schau doch, Josef“, sagte die Frau und lächelte. „Kein Geschenk“, murmelte der Hirte verzagt. „Es tut mir so leid.“ – „Und das Schäfchen? Borgst du es uns für diese Nacht? Seine Wärme wäre das schönste Geschenk für unser Kind“, bat die Frau. „Das Schäfchen?“ sagte der Oberhirte, und er brauchte eine Weile, um es zu verstehen. Dann leuchtete sein Gesicht auf. „Natürlich, ihr dürft es euch borgen, so lange ihr hier im Stall seid. Aber ich muss euch warnen. Es ist nicht das bravste aus der Herde. Es nimmt gerne Reißaus. Es braucht einen guten Hirten.

Rachel von Kooij

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