Der alte Esel Zebulon war grantig. Das war eigentlich nichts Außergewöhnliches, denn so wie sein Fell immer grau war, so war seine Gemütslage immer ein wenig von Grant und Unzufriedenheit überschattet. Doch an diesem Wintertag im Dezember hatte er ein Recht darauf, wirklich schlechter Laune zu sein. Sein Herr und Besitzer Josef, ein Zimmermann, hatte sich in aller Früh mit einer dünnen Decke und
einem gefüllten Proviantsack in der Hand aus dem Haus geschlichen und hatte ihn, den alten Esel, einfach im Stall stehen lassen. Das war etwas Unerhörtes. Zebulon hatte mehrmals laut mit seiner heiseren Stimme geschrien, doch Josef hatte sich nicht nach ihm umgedreht.
Als sein Herr nur mehr als kleine Staubwolke auf der Landstraße sichtbar gewesen war, hatte sich Zebulon bockig zur Bretterwand gedreht und sich ganz und gar seiner schlechten Laune hingegeben. Wie kam er eigentlich dazu, so übergangen zu werden? Sein ganzes Leben lang hatte Josef ihm jeden Tag in der Früh die schwere Werkzeugtasche über den Rücken geworfen und ihn zur Eile angetrieben, egal ob es regnete, stürmte oder hagelte. Niemals hatte Josef ihn gefragt, ob er zum Arbeiten Lust hatte, ob er sich gern nasse Füße holte, ob es ihm ein Bedürfnis war, schwere Lasten zu tragen. Zebulon schüttelte im engen Stall verärgert seinen Kopf. Im Gegenteil: Josef hatte sich immer aufgeregt und mit dem Stock nachgeholfen, wenn er, Zebulon, vor einer Lacke mit kaltem Regenwasser gebockt hatte, wenn er den Rücken wegen der schweren Last krumm gemacht hatte, so dass Josef diese nicht festbinden konnte, oder wenn er zu gemütlich unterwegs gewesen war.
Aber war das ein Grund, eine Erlaubnis, eine Berechtigung, einfach so, ohne ihn, auf Urlaub zu gehen? Denn dass Josef zu einer kleinen Erholungsreise von daheim aufgebrochen war, konnte sogar ein alter Esel sehen. Wozu sonst nahm jemand eine dünne Decke und einen Sack voller Proviant mit, wenn er nicht auf der Decke in der Sonne liegen und in freier Natur speisen wollte?!
Während er hier im düsteren Stall stehen und sich langweilen musste, gondelte Josef auf der Landstraße herum, ohne Sorgen, ohne Hast und Eile.
So eine Freundschaft war das also zwischen ihm und Josef. Für die Arbeit war er immer gut genug gewesen, doch wenn es darum ging, einmal richtig zu leben, mit-einander unterwegs zu sein, Seite an Seite, da machte Josef Schluss mit ihrer Kameradschaft.
Zebulon schlug mit seinen Hufen aus und trommelte gegen die Stallwand. Doch diese gab leider nicht nach.
Drinnen im Haus hörte Maria den Lärm. Nachdem Josef aufgebrochen war, hatte sie sich nochmals hingelegt. Wie lange würde er wohl weg sein? Der Weg nach Bethlehem war weit und auch nicht ungefährlich. Sie war dagegen gewesen, dass Josef so ganz allein diese Reise unternahm.
„Geh doch erst im Jänner, wie dein Neffe Jakob mit seinen drei starken Söhnen. Die Frist läuft erst Anfang Februar ab. Du hast gar keinen Grund zu dieser übertriebenen Eile", hatte sie ihn mehrmals gebeten.
Doch Josef hatte nur auf ihren dicken Bauch geschaut und jedesmal geantwortet, dass im Jänner das kleine Baby da wäre und dass er sie dann unmöglich mit allem allein lassen könnte.
Mit allem allein lassen – er meinte, doch nur mit dem Tuscheln der Nachbarn, mit dem hämischen Blick der alten Hebamme und der Verachtung von seinen Verwandten, weil sie und Josef noch nicht richtig verheiratet waren.
Maria vergrub ihr Gesicht im Polster. Er roch noch ein wenig nach Josef. Wie sie ihn bereits vermisste. Wie viele Tage würde er wohl fort bleiben? Sie rechnete. Wenn er sich beeilte, konnte er in vier Tagen in Bethlehem sein. Dort musste er sich dann einschreiben lassen. Das würde wahrscheinlich auch ein paar Tage dauern, denn schließlich wollte Kaiser Augustus alle Männer mitsamt den Frauen, Kindern, Viehzahl, Hauseigentum und Grundbesitz in Listen erfasst haben.
Maria musste schmunzeln. Josef hatte ihr versprochen, sie als seine Frau eintragen zu lassen und das ungeborene Baby als Sohn. Sie stellte sich vor, wie er aufrecht und mit seinem würdigen Bart vor dem glattrasierten römischen Beamten stand und aufzählte: Josef, Zimmermann in Nazareth, aus dem Geschlecht Davids, mit seiner Ehefrau Maria, seinem Sohn Jesus, mit einem Esel Zebulon, vier Hühnern und einem Hahn, einem Haus mit Stall, Werkstatt und kleinem Eigengarten und die Hälfte eines Ackers.
Da hat der römische Beamte viel aufzuschreiben, dachte sie stolz. Denn er musste es sicher mehrmals schriftlich festhalten. Einmal für den Kaiser Augustus in Rom, der die Idee gehabt hatte, ein zweites Mal für Quirinius, den Statthalter von Syrien, der sich genauso wichtig fühlte wie Augustus. Natürlich würde auch Herodes, der sich König von Judäa nennen durfte und bei Empfängen, wie man sich erzählte, gern mit einer goldenen Krone umherging, ein Exemplar haben wollen. Wer weiß, vielleicht würden auch die Hohen Priester in Jerusalem die Listen bekommen, damit sie diese wie die Torahrollen studierten und nachher wussten, dass es so und so viele Juden, Samariter und Heiden in Jerusalem, Judäa und Galiläa gab. Vielleicht würden sie Jahre später einmal nachschlagen und feststellen, dass ihr Sohn einen Vater hatte, der Zimmermann in Nazareth gewesen war.
Draußen vor dem Fenster sangen die ersten Vögel, und als Maria die Vorhänge beiseite schob, lachte ihr ein strahlend blauer Himmel entgegen. Die Luft war so klar und roch so frisch, dass Maria auf der Stelle beschloss, den Hausputz, das Aufräumen, die Wäsche, die Malerarbeiten und Reparaturen auf morgen zu verschieben, und statt dessen mit dem alten Esel Zebulon, den Josef ihr rücksichtsvoll da gelassen hatte, in den Wald zu reiten und Holz zu sammeln. Sie würde ein wenig Proviant mitnehmen und auch eine dünne Decke zum Ausrasten. Erst am Abend wollte sie zurückkehren. Es versprach ein herrlicher Tag zu werden, und das schönste daran war, dass sie die Nachbarn nicht sehen und nicht ins Dorf gehen musste und dass, wenn eine von Josefs selbstgefälligen Schwestern vorbeischaute, sie nicht daheim wäre. Natürlich, man würde wieder über sie tuscheln. Denn welche anständige, verheiratete Frau ging allein in den Wald, um Holz sammeln?
Maria setzte sich im Bett auf. Die ersten Sonnenstrahlen drangen durch das Fenster, und obwohl es mitten im Winter war, würde es ein herrlicher Tag werden. Sie hatte sich eine ganze Reihe von Aufgaben vorgenommen, die sie während Josefs Abwesenheit erledigen wollte: Das Haus putzen, die Werkstatt aufräumen, die Vorhänge waschen, den Stall neu mit weißer Kalkfarbe streichen, eine Menge Holz sammeln und das quietschende Gartentor reparieren, schließlich war sie nicht umsonst mit einem Zimmermann verlobt.
Fortsetzung folgt morgen…
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